1991 brach in Jugoslawien der Krieg aus, der über 100.000 Tote forderte und Millionen Vertriebene zur Folge hatte. Doch schon rund zehn Jahre vor dem militärischen Konflikt waren die Probleme innerhalb des Staates massiv. Explodierende Arbeitslosenzahlen, ein niedriger Lebensstandard und hohe Inflation führten zu landesweiten Streikwellen. Wie diese Proteste mit dem aufkeimenden Nationalismus zusammenhängen, untersuchen Wissenschafter der Karl-Franzens-Universität Graz.
Univ.-Prof. Dr. Florian Bieber vom Zentrum für Südosteuropastudien leitet das vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderte Projekt „Zwischen Klasse und Nation“. Gemeinsam mit den Doktoranden Rory Archer, MA, und Goran Musić, MA, dokumentiert er anhand von vier Fallstudien in Serbien und in Montenegro, wie die ökonomischen und politischen Prozesse im Alltag der ArbeitnehmerInnen Ausdruck fanden. Während sich die bisherige Forschung zum Zerfall Jugoslawiens überwiegend auf PolitikerInnen und Intellektuelle konzentriert, lenkt dieses Projekt die Aufmerksamkeit auf ArbeiterInnen, die für die nationalistischen Massenbewegungen der späten 1980er-Jahre ein Kernbestandteil waren.
Zwischen Idee und Realität
Der Zerfallsprozess Jugoslawiens begann in den 1980er-Jahren mit einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise und enormen Spannungen zwischen den einzelnen Republiken über Reformen sowie über das Gleichgewicht innerhalb des Staates. Aus dieser Krise erwuchsen nationalistische Bewegungen, die von verschiedenen PolitikerInnen, insbesondere Slobodan Milošević, instrumentalisiert wurden. Die Gegenüberstellung von politischen Ideologien und sozialen Realitäten ist ein zentraler Aspekt, den die Forscher der Uni Graz untersuchen – hier gab es große Lücken zwischen Idee und Umsetzung, unterstreicht Rory Archer: „Das System der Arbeiterselbstverwaltung und Dezentralisierung, die in Jugoslawien seit den 1960er-Jahren umgesetzt wurde, sollte zu einer Demokratisierung der Wirtschaft und Effizienzsteigerung beitragen. Stattdessen entwickelte sich daraus eine schwerfällige Form der Bürokratie, die höheren Angestellten größere Privilegien einräumte – ein Ungleichgewicht, das nicht nur soziale Unterschiede schuf, sondern auch dem kommunistischem System widersprach.“
Zur ökonomischen Krise kam ein weiterer Konfliktherd: Der Status der Provinzen Kosovo und Vojvodina wurde aufgewertet, sodass die Machtverhältnisse innerhalb Jugoslawiens neu gewichtet wurden. Kritik und Widerstand, insbesondere in Serbien, waren die Folge. „Diese verschiedenen Faktoren führten zu nationalistischen Keimzellen im gesamten Land. Unter serbischen ArbeiterInnen verschwammen Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit mit jenen nach Zentralisierung und der Aufhebung der Autonomie der Vojvodina und des Kosovo“, erklärt Bieber.
Vor diesem Hintergrund recherchieren die beiden Doktoranden Archer und Musić in Interviews mit ZeitzeugInnen, wie diese die Lücke zwischen Ideologie und Realität wahrgenommen haben. Die Wissenschafter richten ihr Augenmerk dabei auf das Wohnungswesen, den Arbeitsplatz sowie den öffentlichen Raum und dokumentieren die Erfahrungen von rund 30 Personen. Neben einer ausgeglichenen Verteilung zwischen städtischen und ländlichen Gebieten achten die Forscher auch darauf, ArbeiterInnen aus verschiedenen Industriezweigen einzubinden. Ziel des Forschungsprojekts, dessen Ergebnisse 2017 in Buchform vorliegen werden, ist es außerdem, eine Plattform für Forschungen über ArbeiterInnen-Bewegungen im südosteuropäischen Raum zu etablieren.
Das Projekt ist in den gesamtuniversitären Schwerpunkt „Südosteuropa“ der Karl-Franzens-Universität Graz eingebunden.